Mein Schatten und ich.

Ja, wir werden uns trennen. Mein Schatten will mich verlassen. Hat die Schnauze voll, sagt er. Meine Dominanz kotzt ihn an, sagt er. Dass ich immer bestimmen würde, wo’s lang geht, kein eigenes Leben, alles fremdbestimmt.

Heute war ich zum ersten mal alleine unterwegs, während er sich in irgendwelchen dunklen Ecken rumtrieb. War schon komisch, so ganz ohne Schatten. Zum Glück war’s bedeckt, da fiel es nicht so auf.

Einige Tage später…

Die gute Nachricht vorweg: wir wollen es noch einmal miteinander versuchen. Beide litten wir, zumindest kann ich das für mich behaupten, in den Momenten des Alleinseins, unter einem vagen, aber doch deutlich wahrnehmbaren Gefühl der Unvollständigkeit und Unvollkommenheit, unangenehm, ein Gefühl, nur noch halbe Sachen hinzubekommen.

Also ein neuer Versuch, so schnell würden wir die Flinte nicht in’s Korn werfen. Aber, das machte mir mein Schatten von vornherein klar, so weitermachen wie zuvor liefe nicht. Dass ich der ewige Bestimmer sei, könne ich mir abschminken. Er brauche seine kleinen Freiheiten, nichts, was mir weh täte, für ihn aber existentielle Bedeutung habe.

Na ja…weh tat’s nicht. Komisch war es schon, als er anfing, sich anders zu kleiden als ich. Er weigerte sich, auf dem Rad einen Helm zu tragen. Schatten benötigen keinen Helm, argumentierte er, Schatten haben keinen Schädel, den sie sich brechen könnten. Okay, hielt ich dagegen, dann brauchen sie auch keinen E-Bike-Schatten, während ich mich auf meinem herkömmlichen Tourenrad abstrample. So ging das eine Weile, bis wir uns schließlich einigten. Er ohne Helm, aber auch ohne E-Motor. Das ging eine Weile gut, bis ich aus dem Augenwinkel bemerkte, dass er nicht in die Pedalen trat, sondern sich von mir fahren ließ. Ich bremste heftig und abrupt, was ihn fast über den Schattenlenker fliegen ließ. So nicht, Freundchen, ließ ich ihn wissen. Noch ein Mätzchen, und ich verlasse das Haus nur noch bei Dunkelheit, dann kannst du sehen, wo du bleibst…

Fortsetzung folgt

Sein letzter Gag (2. Kapitel)

Die Vorbereitungen für die große Show, diesmal in der Gruga-Halle in Essen, liefen auf Hochtouren, wieder einmal arbeitete sein Team wie ein Uhrwerk. Bernd Stein, sein langjähriger  Tourmanager, hatte alles im Griff, packte selbst mit an, wenn nötig, rastete aber auch komplett aus, wenn jemand sich blöd anstellte, und hatte nicht erst einmal einen Techniker oder einen Assisten achtkantig gefeuert, da reichte schon ein nichtiger Anlass. Mit anderen Worten: alle hatten höllischen Respekt vor ihm. Sein bester Mann, ohne Zeifel.

Er betrat die Bühne, die heute abend seine Welt sein würde, und er wäre der Mittelpunkt dieser Welt, die Sonne, um die sich alles drehen würde. Er grinste kurz bei dem Gedanken an dieses Bild, dann drehte er sich zur Großbildleinwand um und wurde seiner selbst gewahr, beziehungsweise seines übergroßen Abbildes. ER, Markus Jürgens, oder der Schöne Markus, wie man ihn auch nannte, prangte dort hoch über ihm. ‚Schade, man sieht sich nur von hinten’, dachte er, hob aber doch die Hand wie zum Gruß. Ja, die Bewegung war sicher, souverän und wohl dosiert, er würde sie anstacheln, alles aus ihnen heraus kitzeln, aus allen. Die Zuschauer im Saal und jene vor den Bildschirmen würden ihm zu Füßen liegen, die Musiker und die Technik würden wieder alles und noch mehr geben und die Kritiker würden sich mit ihren Lobeshymnen gegenseitig überbieten. Besonders die Senioren liebten ihn über alles, er holte die Stars von früher, erloschene Sterne und erkaltete Kometen, noch einmal zurück in’s Rampenlicht, vergessene Heroen, ergraut, senil und verstummt, noch einmal hell auf-flackernd, bevor sie endgültig in der Versenkung verschwanden. Jockel Vonderems war vor zwei Monaten auf der Bühne gestorben, hochdramatisch und super insziniert, wenn es nicht ein glücklicher Zufall gewesen wäre. Die ganze Nation hatte gebannt zugeschaut, als der Dicke, wie man ihn auch nannte, seinen letzten Witz riss, kein schlechter übrigens, hätte er nur nicht vor lauter Verwirrtheit die Pointe verrissen, sich dann plötzlich an die Brust griff, röchelnd die Augen verdrehte und filmreif zu Boden sank. Die folgende Aufregung im Saal und auf der Bühne, die hektischen Bemühungen der Ersthelfer, das ernste und würdevolle Kopfschütteln des natürlich zu spät eintreffenden Notarztes und schließlich die Aufbahrung, alles war perfekt im Timing. Während das schneeweiße Leichentuch langsam, Zentimeter für Zentimeter, über den massigen Körper des Verblichenen gezogen wurde und zum Schluß das blau angelaufene, bärtige Gesicht verhüllte, fand die Band die passenden Abschlußakkorde, dramatisch anschwellend, sich überschlagend, mit einem Donnerschlag endend. Das machte den ‚Bone Collectors’ so schnell keiner nach, dachte er.

Heute abend würden ‚Bläcky und Roy’ auftreten, die singenden Illusionisten, und Ina Meyer, die früher einmal wirklich attraktive Unterhaltungskünstlerin. Jahrelang hatte sie illustre Gäste in ihrer Show ‚Ina’s Abend’ life präsentiert, bis ihrem Gast Dieter Balken, einem bekannten Poptitanen, das Maleur mit der Durchfallattacke passierte und sie, ihrer Spontanität gemäß, Attacke auf Kacke reimte und in wieherndes Gelächter ausbrach. Dieter Balken war nicht der Mann, der mit wieherndem Gelächter souverän umgehen konnte, vor allem, wenn es ihm und seiner vollgeschissenen Hose galt. Er lies seine große Macht spielen, sprach am folgenden Tag in sauberer Hose mit dem Programmdirektor über einige sehr schmutzige und pikante Details aus dessen Sexualleben, die die Öffentlichkeit und vor allem seine Gemahlin sicherlich brennend interessieren würden, er aber bereit sei, für sich zu behalten, und am nächsten Tag war ‚Ina’s Abend’ abgesetzt, und zwar für immer.

Ein Schulterklopfen riss ihn aus seinen Gedanken. „Wir haben die Nummer“, frohlockte Bernd, „war sauschwer rauszukriegen!“ Markus Jürgens begriff nicht, und sein Gesicht schien das deutlich auszudrücken. „Mann, die Nummer von dem alten Knacker! Diesem Supershowmaster, als wir klein waren, hattest du doch selber, die Idee! Wie heißt er nochmal…Rudi…äh…Rudi Koralle!“ „Chapeau, Alter! Wo steckt der Typ denn?“  „Seniorenheim in Bielefeld mit echt programmatischem Namen, heißt ‚Himmelspforten’, hoffentlich hält er bis heut’ abend noch durch, hehe“. „Ja hoffentlich, der war früher ’ne echte Nummer. Wenn wir dem sein Lebensgeheimnis entreissen, toppt das alles, was wir bisher so hatten!“ Ja, darin war er gut. Er hatte noch jedem seiner senilen Opfer, die er life während der Show anrief, kleine und große Geheimnisse entlocken können, oft kurz bevor sie ihre Schnabeltasse abgaben. So manche Seite der Geschichtsbücher hatte aufgrund seines Gespürs schon umgeschrieben werden müssen. Die Show konnte beginnen.

 

(Fortsetzung folgt)

Sein letzter Gag (1. Kapitel)

Eine Wespe, summend vor Erregung, zog unsichtbare Linien über das Fensterglas, eine nach der anderen, immer von unten nach oben. Halb fliegend, halb laufend, versuchte sie, in’s Freie zu gelangen, nicht begreifend, dass durchsichtig nicht gleichbedeutend mit durchlässig ist. Seit einer halben Stunde beobachtete er das Insekt. Der Pfleger hatte das Fenster gekippt und seinen Einwand, nun, im September, flöge doch alles mögliche, vor allem aber Wespen, in die Räume, und er habe keine Lust, gestochen zu werden, beiseite gewischt. „Opa,“ hatte er gesagt, „hier stinkt’s! Wir müssen auch mal lüften! Außerdem stechen sie nur, wenn man nach ihnen schlägt. Willst du eine Wespe schlagen? Du kannst ja froh sein, wenn du den Arm noch hoch kriegst. Von anderen Sachen mal ganz abgesehen…hahaha!“ Prustend verließ er das Zimmer, seine Schritte verhallten schließlich zusammen mit seinen kaum unterdrückten Lachanfällen auf dem langen Flur.

‚Arschloch’, dachte er. ‚Respektloses Arschloch, wenn ich könnte…’ und gleich darauf ‚ach, was solls‘. Er war kein Gewaltmensch, auch früher nicht, als er jung und gesund war, und seine Souveränität und Gelassenheit hatten ihn auch in kritischen Situationen während seiner Show nie verlassen, wenn er seinen Kandidaten hartnäckig auf den Zahn gefühlt hatte.

Die Wespe holte ihn aus seinen Erinnerungen. Der Klang ihres Fluges hatte sich verändert. Sie kreiste zwei mal durch sein Zimmer, überflog seine Bettdecke und ließ sich auf dem Hörer des Telefons nieder, das links neben ihm auf dem Nachtschränkchen stand. Es war ein altertümliches Modell aus ligustergrünem Kunststoff mit Wählscheibe, auf dessen Anschluß er bestanden hatte, obwohl ihm natürlich die Vorteile eines Smartphones bekannt waren. Er hatte beschlossen, in diesem Punkt stur zu sein, schließlich bezahlte er viel Geld für Unterkunft und Pflege und konnte erwarten, dass ihm seine Wünsche weitestgehend erfüllt würden. Das Internet war ihm egal, und fotografiert hatte er auch früher nicht, also reichte ein einfaches Telefon. Punktum!

Er schaute finster auf das Telefon. Noch nie hatte ihn jemand in der bekannten Pflegeanstalt ‚Himmelspforten’ bei Bielefeld angerufen. Seit fast fünf Jahren sammelte sich Tag für Tag Staub auf dem Gerät. Einmal in der Woche wurde es flüchtig abgewischt, in den Wahllöchern klebte er jedoch millimeterdick. Er rief nicht an, wen sollte er auch anrufen? Alle, die er einst kannte, waren tot oder dement. Was sollte er mit ihnen besprechen? Seinen Stuhlgang? Wie wunderbar und schön die Zeiten einst waren? Dass der Hintern der Oberschwester immer dicker würde? Er verzichtete auf solche Gespräche.

Er erwartete, dass man ihn anrief. So wie früher. Veranstalter, Fernsehmacher, Produzenten, das ganze Geschmeiß der Showbranche, schöne Frauen, Stars, die jeder kannte, so wie ihn jeder kannte, und Sternchen, die keiner kannte und und deshalb der Meinung waren, sich nach oben vögeln zu müssen. Er hatte ihnen gerne auf diesem Weg geholfen.

Die Wespe hatte sich in der Zwischenzeit auf einem Stück Pflaumenkuchen niedergelassen, welches auf einem Tellerchen neben dem Telefon stand, und das er noch nicht angerührt hatte. Sie saß mitten auf der fruchtig-süßen Masse, ihre Mundwerkzeuge kauten eifrig, während ihr Hinterleib rhythmisch pumpte. Vielleicht hatte sie vorher eine Fliege gefangen, die zuvor Kuhscheisse gefressen hatte, dachte er. Er würde auf den Kuchen verzichten. Wenn er jetzt zum Hörer greifen würde, stäche sie ihn vielleicht, dachte er, obwohl er ihr doch nichts Böses wollte. Müde ruhte sein Blick auf dem Insekt. Die frühabendlichen Sonnenstrahlen schlängelten sich durch das Geäst der Bäume, die den Wandelgarten säumten, und tanzten auf seiner Bettdecke. Die Augen fielen ihm zu.